Cover
Titel
Die Freundin. Beziehung und Geschlecht um 1900


Autor(en)
Leyrer, Anna
Erschienen
Göttingen 2021: Wallstein Verlag
Anzahl Seiten
247 S.
Preis
€ 24,00
von
Sarah Probst, Historisches Institut, Universität Bern

Das kontinuierliche gesellschaftliche Desinteresse an Beziehungen zwischen Frauen, an Freundinnen, macht das Schreiben ihrer Geschichte zu einer Herausforderung, wie Anna Leyrer in ihrem Buch aufzeigt: Die Philosophie ‒ «von Aristoteles bis Nietzsche» (S. 9) ‒ konzipierte Freundschaft als eine Beziehung zwischen Männern, Freundinnen kam dabei ein marginaler Stellenwert zu. Leyrers Studie über freundschaftliche Beziehungen zwischen Frauen um 1900, an der Universität Basel als Dissertation entstanden, setzt an dieser Leerstelle an und fragt, wie «die Freundin» jenseits der männlich gedachten Freundschaft theoretisch positioniert werden kann. Mit einer Geschichte der Freundinnen lässt sich nicht einfach die Geschichte der Freunde ergänzen, sondern «die Freundschafts-Geschichte von der Differenz her» (S. 11) erzählen, so argumentiert die Autorin.

Die Beziehungen der Intellektuellen, Schriftstellerin und Psychoanalytikerin Lou Andreas-Salomé (1861‒1937) zu Frieda von Bülow (1857‒1909), Ellen Key (1849‒1926) und Anna Freud (1895‒1982) stehen im Zentrum des Buches. Quellengrundlage bilden der unveröffentlichte Briefwechsel von Andreas-Salomé mit von Bülow und Key, die editierte Korrespondenz mit Anna Freud sowie zusätzliche veröffentlichte Schriften der Protagonistinnen. Mit Bezug auf die «Methode des wilden In-Bezug-Setzens» und anknüpfend an Roland Barthes und Jacques Rancière argumentiert die Autorin dafür, die «Resonanzen» in den Gesprächen zwischen den historischen Akteurinnen und damit ergänzende feministische, philosophische und sozialwissenschaftliche (auch nicht-zeitgenössische) Literatur beizuziehen. Damit soll eine Hierarchisierung des «erklärenden» und «erklärten» Diskurses aufgehoben werden (S. 18). Insgesamt greift Leyrer für ihre Argumentation auf einen reichen Fundus an theoretischen Arbeiten zurück. Methodisch sind ein mikrohistorischer Ansatz und die Unterscheidung zwischen Ort und Gegenstand der Untersuchung nach Clifford Geertz zentral: die Biografien und Beziehungen stellen den «Ort» dar, anhand dessen Leyrer Freundschaft zwischen Frauen untersucht (S. 14). Andreas-Salomé, aufgewachsen in St. Petersburg und bis heute vor allem wegen ihrer Beziehungen zu Friedrich Nietzsche, Rainer Maria Rilke und Sigmund Freud in Erinnerung, steht zwar im Mittelpunkt der Untersuchung, dennoch handelt das Buch weniger von ihrer konkreten Person als vielmehr dem «Fall Lou Andreas-Salomé» (S. 15). Der Fall soll weder normalisiert noch isoliert werden, was in Bezug auf Andreas-Salomé bedeute, sie weder als «Frau neben den grossen Männern» noch als Ausnahmeerscheinung zu denken (S. 14).

Der erste Teil «Politik der Freundin» widmet sich der Beziehung von Lou Andreas-Salomé und Frieda von Bülow, die sich 1892 in Berlin kennenlernten. Von Bülow war eine Schriftstellerin adliger Herkunft, die für eine Mitarbeit von Frauen in der deutschen Kolonialpolitik einstand. Leyrer fragt, inwiefern Freundschaft «eine Gleichheitsbeziehung ist, sein muss oder sein soll» (S. 20). Ausgangspunkt dazu bildet Joan Scotts These des widersprüchlichen Verhältnisses zwischen Feminismus und der modernen Demokratie: Die Individualitäts- und Gleichheitsversprechen der Moderne basierten auf dem Ausschluss der Frauen als das Andere, gleichzeitig schaffte die moderne Demokratie erst die Voraussetzung für feministische Kämpfe. Von Bülow und Andreas-Salomé verhielten sich sehr unterschiedlich zum Gleichheitsbegriff, wie es ihr Austausch und ihre Schriften über die Fähigkeiten von Frauen zur Literatur und zur Freundschaft verdeutlichten. Von Bülow beabsichtigte das «Einschreiben der Frau in jene paradoxe Begründung der modernen Gleichheit in der Individualität» (S. 42), indem sie Frauen und Männer zwar als verschieden begriff, aber von einer gemeinsamen Menschlichkeit ausging. Andreas-Salomé hingegen sah keinen Ort für Frauen in der männlichen Moderne – Freiheit läge für Frauen nicht in «Gleichheits-Zielen», sondern in der «weiblichen Lebensfähigkeit» (S. 49). Zeitgenössische Feministinnen wie Hedwig Dohm beurteilten Andreas-Salomés Aussagen als rückständig, da sie die Beschränkung von Frauen auf das Häusliche implizierten. Leyrer hingegen macht Parallelen mit den Ideen der Mailänder Feministinnen der 1980er-Jahre aus, die sich kritisch mit Gleichstellungspolitik auseinandersetzten und eine Anpassung an männliche Normen und Gegebenheiten ablehnten. Trotz ihrer unterschiedlichen Positionierungen blieben Andreas-Salomé und von Bülow befreundet.

Der zweite Teil «Zärtliche Freundinnen» nimmt Andreas-Salomés Freundschaft zur renommierten, auch im deutschsprachigen Raum breit rezipierten schwedischen Pädagogin Ellen Key in den Blick. Key und Andreas-Salomé lernten sich kurz vor der Jahrhundertwende in frauenbewegten Kreisen Berlins kennen und pflegten anschliessend einen intellektuellen Austausch sowie zusehends eine intimere Beziehung: in ihren Briefen zeigten sich «Liebesbekenntnisse» oder «Zärtlichkeitsbeweise», «erotisierte Szenen» seien keine Seltenheit gewesen (S. 115). Die Grenzziehung zwischen Frauenfreundschaften und gleichgeschlechtlichem Begehren, so zeige auch die Sekundärliteratur, sei um die Jahrhundertwende unklar. Verbunden mit der Erotik spielen laut Leyrer im Denken der beiden Autorinnen Mütterlichkeit und Mutterschaft eine wichtige Rolle. Mütterlichkeit sei in der Frauenbewegung nicht nur um 1900, sondern bis heute eine «Kippfigur», und könne als «einseitige Festlegung, als Einengung der Frau erscheinen, genauso wie als Potenzial für gesellschaftliche Veränderung, als ethischer Faustpfand für eine weibliche Kultur» (S. 143). Die Ausführungen zu Mütterlichkeit könnten sowohl als eugenisch geprägt als auch als Denken einer neuen weiblichen Beziehungspraxis jenseits männlicher Logik verstanden werden.

Der Austausch von Lou Andreas-Salomé mit der über 30 Jahre jüngeren Psychoanalytikerin Anna Freud steht im Zentrum des dritten Teils «Die Schwester, der Freundschaftstraum». Diese Freundschaft ging auf einen Besuch von Andreas-Salomé in Wien 1921 zurück. Trotz des beachtlichen Altersunterschieds entwickelte sich laut Leyrer eine horizontale, gar schwesterliche Beziehung. Die Autorin stellt die Frage, «ob nicht ein Denken von der Schwester her eine Option wäre, unser Denken der Freundschaft zu dezentrieren» (S. 161), also Freundschaft nicht mit Brüderlichkeit gleichzusetzen. Neben dem gemeinsamen Denken und Arbeiten der «Schwestern-Freundinnen», der Frage nach weiblicher Autorinnenschaft und der Position der Schwester in der Psychoanalyse beleuchtet Leyrer in diesem Kapitel die Funktion der Strickwaren, die Anna Freud für ihre Freundin anfertigte: Im «Häkeln und Stricken zu Andreas-Salomé hin» entstünde Nähe und Verbundenheit, gleichzeitig verweise der Herstellungsprozess darauf, dass Beziehung immer hervorgebracht werde (S. 191).

Anna Leyrer gelingt es, «die Freundin» Lou Andreas-Salomé und damit Freundschaft fernab der «grossen Männer» und einer androzentrischen Logik zu denken. Sie betont das Potential von Freundschaft als Differenzbeziehung entgegen der «Gleichheitsobsession der Moderne» (S. 213) und zeichnet ein Bild von Andreas-Salomé als Feministin, die nicht auf Gleichheit und Anerkennung, sondern Differenz abzielte, woraus sich «viel kühnere und radikalere Utopien» (S. 214) ableiten liessen. Die Interpretation, die historischen Akteurinnen hätten mit ihrer Betonung von spezifisch weiblicher Kultur und Bezogenheit Beziehungen und damit wohl auch Gesellschaftsentwürfe jenseits patriarchaler Normen entworfen, erweist sich durchaus als inspirierend. Um deren transformatives Potenzial einschätzen zu können, wäre an verschiedenen Stellen eine ausführlichere Kontextualisierung der Protagonistinnen wünschenswert, insbesondere, wenn es um koloniale Verstrickungen oder Nähe zu faschistischen Ideen geht, wie es Hanna Hacker in einer früheren Rezension angemerkt hat.1 Die Lektüre erweist sich weiter, vielleicht bedingt durch das «wilde in Bezug-Setzen», bisweilen als herausfordernd, immer aber sehr anregend. Die Autorin beeindruckt mit fundiertem theoretischem Wissen und originellen methodischen Zugängen, welche die disziplinären Grenzen zu sprengen vermögen.

Anmerkungen
1 Hanna Hacker, Rezension zu: Leyrer, Anna: Die Freundin. Beziehung und Geschlecht um 1900, in: H-Soz-Kult, 10. 06. 2022, www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-97545 (5.8.22).

Zitierweise:
Probst, Sarah: Rezension zu: Leyrer, Anna: Die Freundin. Beziehung und Geschlecht um 1900, Göttingen 2021. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 72(3), 2022, S. 464-466. Online: <https://doi.org/10.24894/2296-6013.00114>.